GARY BERGER 2024. 艾爾·里希特·福爾貝哈爾滕

On the paradox of an art in the age of disappearing

 

Vom Paradoxon einer Kunst im Zeitalter des Verschwindens

von Bettina Spoerri*

Seit Beginn der Technisierung seiner Umgebung arbeitet der Mensch an seinem Ersatz durch Maschinen: Maschinen, die sich nicht nur schneller als er fortbewegen und gar fliegen können, mehr Speicherkapazität besitzen und komplexe Aufgaben in kürzerer Zeit bewältigen, sondern ihn auch dadurch überflüssig machen, indem sie gerade in seiner Abwesenheit anwesend zu sein vermögen. Die Welt und die Wahrnehmung dieser Welt, die Ausmasse des Realen und seine Vermessung, das Ding und seine Bezeichnung: Ein dualistisches System steht am Anfang der Kreation, die Distanz erst, das Unterscheiden erschafft Erkenntnis, das Denken in Begrifflichkeiten. Doch dieser Anfang ist auch der Anfang vom Ende. Denn gibt es einmal die Signifikanten, die Zeichen als symbolische Repräsentanten realer Gegebenheiten, beginnen sie ihr eigenes Spiel. Das Spiegelbild macht sich selbständig, wie das unheimliche Bildnis des Dorian Gray.

Indem er sie analysiere und verwandle, verleihe der Mensch der Welt Realitätskraft, gleichzeitig entledige sich der Mensch ihrer auf eben diese Weise, schreibt der französische Kulturphilosoph Jean Baudrillard in seinem letzten Essay Warum ist nicht alles schon verschwunden? (2007), in der er die Konsequenzen der Spaltung in Wahrnehmendes und Wahrgenommenes, in Signifikant und Signifikat zu Ende zu denken versucht. Er bringt es in einer provokanten, wenngleich unleugbar logisch gedachten Aporie auf den Punkt: Jenseits reiner Unmittelbarkeit setzte mit der Entdeckung der Welt paradoxerweise auch ihr Verschwinden ein. Gerade weil er vermisst, dokumentiert, seziert, arbeitet der Mensch an seiner eigenen Auflösung. Schneller denn je verflüchtigt er sich heute im Datenstrom programmgesteuerter 0/1-Konstruktionen, wenn er nurmehr reales Leben durch Simulationen verdrängt, sein mentales Zentrum mit künstlich erzeugten Reizen speist und sich im Cyberspace virtuelle Körper und Identitäten verleiht.

Von dieser Entwicklung, getrieben von der Frage nach den Möglichkeiten der Repräsentation von Realität in einem solchen zeitgenössischen Kontext, handelt die multimediale Komposition ctrl + alt + delete von Gary Berger (Musik/Komposition), Masus Meier (Design/Video) und Sascha Armbruster (Saxophon), in der sich auditive und visuelle, musikalische und filmische Mittel zu einem vielschichtigen Kunstwerk vereinen. Die Gleichberechtigung der visuellen und der auditiven Ebene, dieses Prinzip galt für den Entstehungsprozess und manifestiert sich in der Endfassung, wie sie sich auf der vorliegenden DVD präsentiert – wobei die Künstler auch eine Liveversion für performative Variationen vorsehen. Die Klänge, die Farben und Formen orientieren sich an gemeinsamen, metamorphen Bezugsmustern. Entlang den Grenzen der Referentialität mäandern die Bilder, um schliesslich nur noch letzte Spuren der Gegenständlichkeit des gefilmten realen Materials aufzuweisen. Auf drei einzelne, rechteckige Bildschirme aufgeteilt, die nebeneinander aufgereiht eine ausgedehnte Horizontale bespielen, erscheinen authentische, aber durch digitale Bearbeitung fast bis zur Unkenntlichkeit verfremdete Objekte. Unversehens entwickeln die ausgewählten Entitäten in Analyse – und Synthese – ungeahnte, überraschende neue Qualitäten und Formen. Was man eben noch meinte benennen zu können, entwindet sich alsbald eindeutigen Zuschreibungen, fordert die Phantasie des Betrachters heraus. Ebenso erinnert die digital zubereitete Musik mit ihrem Klangmaterial an Geräusche und Töne aus der Alltagswelt und der Natur, etwa das dumpfe metallene Bohren, wie es auf einer Baustelle zu hören sein könnte, ein Surren und Brummen wie von Insekten – oder Flugzeugpropellern? –, oder jenes hohe Kreischen, das Ähnlichkeit mit einem Vogelkrächzen aufweist; und doch evoziert diese Musik eine unvertraute Hörwelt.

Der Mensch bringt die Authentizität der Welt zum Verschwinden. Rasant beschleunigt hat sich diese Entwicklung mit der Industrialisierung, der rationalisierenden Arbeitsteilung, der Technisierung des Alltags. Sukzessive hat sich der Zauber aus der Welt zurückgezogen. Die globale Mobilität heute, aber vor allem die Digitalisierung und Virtualisierung stellen nur den letzten, radikalsten Schritt in diesem Prozess dar. ctrl + alt + delete erinnert an diese Geschichte und zitiert ihre Ikonen, um eben diese Instrumente im ironischen Spiel des Digitalen selbst der Zersetzung preiszugeben – und Neukreationen wuchern zu lassen. Einmal geben sich die enigmatischen Konkreta als zusammenhängendes Kontinuum, rattern, flitzen, pendeln, torkeln durch den Hör- und Seh-Raum. Loops, Rückkopplungen, Halleffekte, Zellspaltungen, Implosionen und Explosionen treiben überraschende Interferenzen aus dem Material hervor. Die Abbilder und Klangversatzstücke aus der Realität verlieren durch digitale Bild- und Tonbearbeitung ihre organische Körperhaftigkeit, mutieren zu Zwitterwesen, zu neuen, ungehörten Klängen, zu wunderbaren, nie gesehenen Kreaturen. Dieser letzte Tanz der realen Objektwelt und ihrer Akustik folgt einer rhythmisierten Choreografie, einmal scheinbar bewegungslos, mehr wie eine Halluzination, einmal in pochenden Attacken, kontrapunktischen Akzenten, dann wieder in gelassenem Dahingleiten, bevor er sich in ein schwindelerregendes Tempo empordreht, das in ein rauschhaftes – und berauschendes – Delirium kippt und sich, sozusagen wörtlich, in schwebendem Rauch auflöst.

Wenn sich der Referenzcharakter der Erscheinungen und Töne auflöst, bleiben die frei flottierenden Zeichen, die sich zu immer neuen kaleidoskopartigen Patterns fügen – übrig bleibt, so orakelt Baudrillard, das Ektoplasma, die reine Oberfläche. Noch einmal zuckt der mediale Datenstrom in Ton und Bild auf, bevor auch er in den Schlund des Verschwindens hinein gezogen wird. Die kleine, augenzwinkernde Reverenz, die ctrl + alt + delete Jackson Pollocks Drip-Painting erweist, zeigt aber auch einen anderen möglichen Ausgang auf: Wenn sich der Künstler als aktives Subjekt im Kreationsprozess zurückzieht, kann die derealisierte Welt im Raum der Kunst vielleicht umso deutlicher zu sich selbst kommen. Eine solche Theorie der Kunst im neuen Zeitalter jedenfalls hat Baudrillard in seinem Essay angedacht. Das könnte der Grund sein, weshalb ctrl + alt + delete am Ende nicht in die Leere mündet.

* Bettina Spoerri ist Literaturwissenschaftlerin, Kulturjournalistin und Beraterin in Kulturfragen

Aus dem Booklettext zur DVD «ctrl + alt +delete» (2009)
von Gary Berger, Optical Noise, Sascha Armbruster
ZHdK Records 20/09

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